Donnerstag, 4. April 2013

Das Darlehen

Der Favorit heute ist von gestern. Also: kalendarisch.

Ich sitze in einem sich zäh dahinschleppenden Nachtdienst von der gefühlten Länge einer vollständig auseinandergeknispelten Lakritzschnecke und warte, dass sich wenigstens jemand zu mir verwählt, als ein zotteliger Mitbürger die Wache betritt.

Heureka! Besuch! Ich stelle die Rückenlehne senkrecht und schalte die Musik aus. Hereinspaziert!

Zottel verzichtet freundlicherweise auf störende Begrüßungsfloskeln und fummelt stattdessen lieber an einem Mörderpickel in seinem Gesicht: "Ich hab mein' Schlüssel beim Kumpel vergessen. Könn' Se ma die Hausmeisterin Bescheid sagen? Und wann fährt überhaupt wieder ein Bus?"

Okay: Wir kennen uns. Mein Gast bewohnt ein Zimmer im Obdach und verdient sich ein Zubrot in der "Genussmittelbranche". ;-)

"N Abend! Einen Schlüssel vom Obdach haben wir leider nicht. Da kann ich Ihnen vermutlich nicht helfen!" Ich krame in den Outlook-Kontakten nach der Nummer der Hausmeisterwohnung - erfolglos.
"Eine Nummer habe ich auch nicht. Haben Sie eine? Oder den Namen? Dann rufe ich da mal für Sie an, damit Sie jemand rein lässt" Leider Fehlanzeige. Wäre ja auch zu einfach.

"Aber die Hausmeisterin ist eh nich Zuhause. Weiß ich zufällig." raunt der (noch) Bepickelte. Ich fahre elektrisch den Schreibtisch hoch. Wenn das Teil platzt, möchte ich bitte hinter den Monitoren Deckung finden. "Na, das wäre ja ein recht kurzes Telefonat geworden wenn da eh niemand rangeht. Dann müssen Sie wohl zurück zum Kumpel, den Schlüssel holen..."

"Geht nicht. Keine Lust. Das ist auch zu weit weg. Können Sie den holen?" Langsam wird er knatschig und hat eine neue Idee: "Können Sie mir Geld leihen?"

Mein überraschter Gesichtsausdruck scheint an der Spritzschutzwand vorbei zu ihm durchgedrungen zu sein. Er schiebt nach: "Sie kennen mich ja, Sie wissen ja dann, wer's hat! Kommen Sie: Zehn Euro."

Vor allem weiß ich, wer's nie wieder sehen würde... "Nein, wir sind leider weder Schlüsseldienst noch Kreditinstitut. Das geht nun wirklich nicht."

Zottel ist beharrlich, nicht nur in seinem Gesicht: "Ey Maaaaaan... Zehn Euro. Komm. Sie können sich doch merken wer's hat! Sie haben mich doch letztens noch eingewiesen. Wir kennen uns doch."

Das ist irgendwie nicht die Art Gespräch, die ich mir zur Zerstreuung gewünscht hatte. Schade. Bis eben hatte ich doch noch Lust auf Besuch. Aber der fordernde Tonfall meines Kreditnehmers und seine Unzufriedenheit über den zweifellos hartnäckigen Pickel, gemischt mit meiner Gewissheit, dem Knilch wohl heute nicht wirklich helfen zu können, lassen mich den Ausgang des Gesprächs ahnen...
Bevor's also zum Streit kommt kürze ich die Angelegenheit lieber ab: "Hören Sie: Ich leihe Ihnen kein Geld. Gehen Sie mal zu Ihrem Kumpel zurück, schnorren Sie sich da 'n paar Euro und dann mit dem Schlüssel ab nach Hause. Wie wär' das?"

"Hmmmmmm...muss ich jetzt gehen? War das der Rauswurf, oder wie?"

"Ja. Soll ich noch schauen, wann hier vorne Ihr Bus kommt?"

"Nee, ich fahr' eh schwarz." 

Da geht er hin, mein einziger persönlicher Kundenkontakt dieser Nacht, und nuschelt sich halblaut ein "Die Bullen ey... pfffff... ers' nich' aufschließen und dann nich' mal zehn Euro... Mist hier!" in den Zottelbart.
Sein einzig erfolgreicher Moment des Abends dürfte unmittelbar mit dem leisen Aufpoppen des Eiterbläschens zu tun gehabt haben.
...Aber immerhin...

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